- germanische Volksrechte
- germanische Volksrechte,Stammesrechte, veraltet Leges Barbarorum, älteste, im 5.-9. Jahrhundert in drei Gruppen entstandene Rechtsaufzeichnungen der germanischen Stämme.Die frühesten germanischen Volksrechte treten bei den auf (ehemals) römischen Boden siedelnden Germanenstämmen auf, voran die Gesetze der Westgoten (Edictum Theoderici, früher und wieder neuerdings dem Ostgotenkönig Theoderich dem Großen zugeschrieben, um 458/459; Codex Euricianus, Palimpsestfragment, »Pariser Fragment«, um 475, sowie die auf seiner Grundlage geschaffene Lex Visigothorum König Rekkeswinds, um 654). Davon beeinflusst entstand das Recht der Burgunder (Lex Burgundionum des Königs Gundobad, zwischen 480 und 501) und das älteste fränkische Gesetz, die Lex Salica (507/511); später folgte für die ripuarischen Franken (Uferfranken, Sitz um Köln) die Lex Ribuaria und für die dem fränkischen Herrschaftsbereich eingegliederten Alemannen der Pactus Alemannorum (1. Hälfte des 7. Jahrhunderts). Den Abschluss bildet das später als einziges germanisches Recht wissenschaftlich bearbeitete langobardische Recht (Edictum Rothari, um 643).Als zweite Gruppe folgen im 7./8. Jahrhundert die beiden süddeutschen Leges, das alemannische und bayerische Volksrecht (Lex Alemannorum, Lex Baiuvariorum), deren genaue Datierung sich als überaus schwierig erweist. Überwiegend wird heute davon ausgegangen, dass diesen Gesetzen unterschiedliche Textschichten zugrunde liegen (nach der Stufentheorie), die zu einem späteren Zeitpunkt eine zusammenfassende Redaktion gefunden haben (Anfang/Mitte 8. Jahrhundert). - Am Ende der Entwicklung stehen die Rechte der Sachsen (Lex Saxonum), der Friesen (Lex Frisionum) und der Thüringer (Lex Thuringorum), die auf Initiative Karls des Großen anlässlich des Reichstags zu Aachen 802/803 aufgezeichnet wurden.Entsprechend dem Personalitätsprinzip galten die germanischen Volksrechte grundsätzlich nur für Angehörige des einzelnen Stammes; zum Teil entstanden deshalb für die römische Bevölkerung und den Rechtsverkehr zwischen römischen und germanischen Einwohnern eigene Gesetze (Lex Romana Visigothorum, auch Breviarium Alarici, 506; Lex Romana Burgundionum, vor 506; Lex Romana Raetica Curienis, vor 765).Die in Vulgärlatein abgefassten germanischen Volksrechte dürfen nicht als eigenständig-ursprüngliches Recht der germanischen Volksstämme verstanden werden. Ihr Inhalt spiegelt entsprechend den Strömungen der 2. Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrtausends spätantikes, römisch-vulgärrechtliches Erbe ebenso wider wie christliche Gedankengut und überkommene germanisch-heidnische Traditionen. Ihr inhaltlicher Aufbau ist im Wesentlichen von einer Dreiteilung geprägt: Rechtsstellung der Kirche (z. B. freies Vergaberecht zugunsten der Kirche), Stellung des Herzogs (z. B. Regelungen über Siegel, Boten, Güter des Herzogs) und v. a. »Volkssachen«, d. h. Bußkataloge (Kompositionensysteme, Wergeld).Schwer fassbar sind Normcharakter und Effektivität der germanischen Volksrechte. Fest steht, dass es sich nicht um Gesetze im neuzeitlichen Sinne handelt, vielmehr um Aufzeichnungen geltender Gewohnheit, allerdings vom König mit dem Ziel der Rechtsbesserung in Angriff genommen. Hintergrund dessen ist die deutschrechtliche Vorstellung des Königs als Bewahrer des (bereits gegebenen, nicht von ihm gesetzten) Rechts, das im Konsens mit den Vertretern des Volkes »gefunden« und von Fall zu Fall gebessert werden musste. Trotz verbleibender Unschärfen sind die germanischen Volksrechte daher dem Normtypus der Rechtsweisung (Weistum) zuzuordnen. Die Volksrechte sind keine Kodifikationen mit umfassend abschließender und ausschließlicher Effektivität. Sie treffen Regelungen nur ausschnittsweise, »per nefas«, d. h. soweit unrechtmäßiges Verhalten Sühneleistungen erfordert. Die germanischen Volksrechte verloren im 10./11. Jahrhundert ihre Bedeutung und wurden gesetzgebungsgeschichtlich durch die Rechtsbücher abgelöst.Ursprünglicher, weil schwächer und später unter romanisch-christlichen Einfluss getreten, ist das nordische Recht überliefert, das in den Aufzeichnungen des 12. und 13. Jahrhunderts den Rechtszustand des Frühmittelalters wiedergibt, so für Norwegen die Rechte der vier Dingbezirke (BorgaÞingsbók, EiđsifaÞingsbók, FrostaÞingsbók, GulaÞingsbók), für Island die Grágás (»Graugans«), für Dänemark das Skånske Lov und für Schweden das Westgöta- und Ostgötalagh. Wie das norde Recht ist auch das älteste angelsächsische Recht, von christlichen Gedanken stark geprägt, in der Volkssprache überliefert. Die Aufzeichnungen gehen auf die Könige von Kent (Aethelberht) und Wessex (Aethelred I., Alfred den Großen, Aethelred II.) zurück.K. von Amira: German. Recht, 2 Bde. (41960-1967);E. T. Gaupp: Das alte Ges. der Thüringer oder die Lex Angliorum et Werinorum, hoc est Thuringorum (Neuausg. 1968);H. H. Munske: Der german. Rechtswortschatz im Bereich der Missetaten (1973);K. Kroeschell: Studien zum frühen u. mittelalterl. dt. Recht (1995).
Universal-Lexikon. 2012.